Ulrichskirche
 

 
 

Volksstimme-Interview mit dem Politologen Prof. Renzsch über die Idee des Bürgerentscheids

Soll die Ulrichskirche mit privaten Mitteln wieder aufgebaut werden? Diese Frage
spaltet die Magdeburger. Für zusätzlichen Zündstoff sorgt der Vorschlag von OB Lutz Trümper (SPD), über die Ulrichskirche mit einem Bürgerentscheid abstimmen zu lassen. Aber: Ist das Instrument geeignet? Volksstimme-Redakteur Rainer Schweingel sprach darüber mit dem Magdeburger Politikwissenschaftler Prof. Wolfgang Renzsch.

Volksstimme: Was halten Sie von Bürgerentscheiden?
Prof. Wolfgang Renzsch: Bürgerentscheide als Mittel der direkten Demokratie halte ich grundsätzlich für sinnvoll. Paradebeispiel dafür ist ja die Schweiz mit ihrer Vielzahl an Bürgerentscheiden. Sie wird ja deshalb auch als Referendum-Demokratie bezeichnet. Die Folgen sind durchaus positiv: Dort gibt es niedrigere Steuern, die öffentliche Verschuldung ist geringer und generell ist die Politik bürgernäher.
Volksstimme: Wer zieht einen Vorteil, wer einen Nachteil aus einem Bürgerentscheid?
Prof. Wolfgang Renzsch: In der Regel haben die eher konservativ geprägten Parteien
Angst vor Bürgerentscheiden. Die Erfahrung zeigt aber, dass diese Skepsis unbegründet ist.
Die Ergebnisse von Bürgerentscheiden sind eigentlich nie radikal, sondern vielmehr moderat konservativ. Die häufig aus der politisch linken Ecke stammenden Bürgerentscheid-Forderungen werden deshalb beim Referendum selbst meistens nicht erfüllt.          
Volksstimme: Ist ein Bürgerentscheid das richtige Instrument, über die Ulrichskirche entscheiden zu lassen?
Prof. Wolfgang Renzsch: Bei mir drängt sich der Eindruck auf, als wollten sich gewählte Vertreter, in dem Fall auch der OB, aus ihrer Verantwortung stehlen. Der Bürgerentscheid ist kein Ersatz für die repräsentative Demokratie, sondern ihr Korrektiv. Damit meine ich: Die gewählte Volksvertretung, also der Stadtrat, sollte das Thema Ulrichskirche gründlich diskutieren und kompetent eine Entscheidung treffen, zum Beispiel auch die Frage der Nutzung und Folgekosten. Sind die Bürger mit dieser Entscheidung nicht einverstanden, können sie über ein Bürgerbegehren einen Bürgerentscheid erzwingen. Das ist der richtige Weg. Der Bürgerentscheid sollte also nicht von oben nach unten gehen, sondern von unten nach oben wachsen. Erst darüber reden, dann entscheiden Ein lehrbuchreifes Beispiel dafür liefern die Hamburger, die auf diesem Weg über einen Schulkompromiss entscheiden wollen. Ein Bürgerentscheid von oben gerät leicht auch in den Geruch eines manipulativen Verfahrens.
Volksstimme: Wo genau sehen Sie Manipulationsgefahr?
Prof. Wolfgang Renzsch: Ich sage nicht, dass der OB hier manipulieren will. Aber ein
Blick in die Geschichte zeigt, dass mit geschickter Fragestellung und nicht ausreichender Vorinformation eine Beeinflussung möglich ist. Ich denke da an so manchen Volksentscheid nach dem Zweiten Weltkrieg wie etwa zur Enteignung.
Volksstimme: Untergräbt ein Bürgerentscheid die Autorität des gewählten Gremiums Stadtrat?
Prof. Wolfgang Renzsch: Die Gefahr besteht. Es gilt ja das Prinzip des unabhängigen Abgeordneten resp. Ratsherrn. Er soll verantwortungsbewusst bewerten, das Thema verhandeln und entscheiden und nicht die Verantwortung nach außen delegieren. Der Stadtrat ist ein kommunales Parlament. Im Wort Parlament steckt das französische „parler“, was so viel bedeutet wie „reden“, „verhandeln“. Deshalb sage ich: Erst darüber reden, dann entscheiden und danach können die Bürger der Entscheidung widersprechen und über ein Bürgerbegehren einen Bürgerentscheid einfordern.
Volksstimme: Kritiker sagen: Ein Bürgerentscheid wäre beim steuerfinanzierten Stadionbau oder der Tunnelentscheidung angebrachter gewesen als bei der Ulrichskirche, die mit privatem Geld errichtet werden soll. Sehen Sie das auch so?
Prof. Wolfgang Renzsch: Nein. Auch hier gilt für mich das Prinzip: Erst die Entscheidung und dann, wenn Teile der Bürgerschaft mit der Entscheidung nicht einverstanden sind, über ein Bürgerbegehren den Bürgerentscheid dagegen einleiten. Dann wird man erfahren, ob die Bürger mit den Entscheidungen des von Ihnen gewählten Rates einverstanden sind oder nicht. Die Tunnelgegner haben das aus meiner Sicht verpasst. Die letzte Kommunalwahl hatte gezeigt, dass insbesondere Tunnelgegner aus Stadtfeld besonders viele Stimmen auf sich vereinen konnten. Das hätten die Tunnelgegner nutzen können für ein Bürgerbegehren, haben sie aber nicht. Sie haben die ihnen zustehenden Möglichkeiten nicht genutzt. Der Vorwurf, dass kein Bürgerentscheid von der Stadt herbeigeführt wurde, ist nicht berechtigt und fällt aus meiner Sicht damit auf die Tunnelgegner zurück.