Ulrichskirche
 

 
 

Ansprache von Dr. Matthias Sens, Propst i.R. am Reformationstag

Ansprache am Reformationstag 2013 in der Wallonerkirche Liebe Freunde der Ulrichskirche! In Augsburg wird heute das neue Themenjahr der Lutherdekade eröffnet. Das neue Thema ist „Reformation und Politik“. Mit dem Ort Augsburg wird an zwei wichtige Ereignisse der Reformationsgeschichte erinnert, bei denen die Verzahnung der theologischen und der politischen Seite der Reformation besonders deutlich wird. 1530 wurde dem Reichstag in Augsburg eine evangelische Glaubenserklärung vorgelegt, mit der man Freiheit für den evangelischen Glauben zu gewinnen hoffte. Sie ging als Confessio Augustana in die Geschichte ein und ist noch heute die grundlegende Bekenntnisschrift der lutherischen Kirche. Der Kaiser und die katholische Mehrheit des Reichstages akzeptierten sie aber nicht. Der evangelische Glaube und Gottesdienst blieben verboten. Dagegen protestierten die evangelisch gesinnten Fürsten und Reichsstädte und verließen den Reichstag unter Protest. Schon ein Jahr zuvor in Speyer hatten sie eine „Protestation“ eingereicht. Seitdem heißen die Evangelischen auch „die Protestanten“ und der aus dem Glauben kommende Protest auch auf der politischen Ebene gehört seitdem zu den Markenzeichen des „Protestantismus“.

Es folgten Jahre heftiger theologischer, politischer und militärischer Auseinandersetzungen, bis schließlich 1555 wieder durch einen Reichstag in Augsburg ein vorläufiger Frieden geschlossen wurde. Die Confessio Augustana wurde nun reichsrechtlich anerkannt und die Fürsten konnten sich entscheiden, ob sie katholisch oder evangelisch sein wollten. Dem hatten die jeweiligen Untertanen dann zu folgen – oder sie konnten und mussten das Land zu verlassen. Wirklichen Frieden gab es aber erst nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg, in dem es auch noch einmal um den Bestand des Protestantismus ging. Das war ganz viel Machtpolitik. Und ein wechselseitiges Geben und Nehmen von Glaube und Politik ist zu erkennen: Luthers Glaubensbewegung ermöglichte den Fürsten eine eigenständige Politik gegenüber Kaiser und Reich. Und ohne den politischen Schutz wäre die Reformation nie zum Zuge gekommen. Die Reformation veränderte die politische Landschaft grundlegend, und die Politik entschied schließlich darüber, welche Gebiete evangelisch und welche römisch-katholisch wurden oder blieben.

Magdeburg und die Ulrichskirche waren in jeder Phase dieser Geschichte eng in das Geschehen involviert. Man kann das in dem Buch von Tobias Köppe sehr schön nachlesen. Und die Reformationsjubiläen, an denen sich die Ulrichskirchengemeinde intensiv beteiligt hat, z.B. 1817 und 1917, spiegelten auch jeweils die politische Großwetterlage wieder. Und das setzte sich bis in die DDR hinein fort: 1967 war Luther noch der „Fürstenknecht“ und Thomas Müntzer der Held. 1983 wurde die geschichtliche Wirksamkeit Luthers als Reformator stärker anerkannt.

Das Ende der Ulrichskirche im 20. Jahrhundert war schließlich auch politisch motiviert. Sie musste weichen, weil die Herrschenden es so wollten. Wir als Kuratorium für den Wiederaufbau der Ulrichskirche haben es nun im 21. Jahrhundert auch schon erlebt, wie Initiativen, die an die Reformation anknüpfen wollen, in die Mühlen der Politik, vorwiegend der Kommunalpolitik geraten sind. Und es ist eine etwas bittere Erkenntnis, dass wir – jedenfalls zunächst einmal – mit eben den Waffen geschlagen wurden, die sich zumindest teilweise der Reformation verdanken, Protest und volksdemokratische Willensbildung. Wir kommen deshalb nicht umhin, wenn wir unser eigenes echt protestantisches Anliegen voran bringen wollen, auch den Weg durch die politischen Instanzen zu gehen, Kommunalpolitik, Landespolitik, Kulturpolitik, Kirchenpolitik.

Liebe Freunde, in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens hat die Reformation entscheidende Impulse gegeben. Ich will wenigstens zwei noch nennen. Zuerst die Bildungspolitik. Luthers Forderung, jeder Junge und jedes Mädchen müssten eine Schule besuchen können, war bahnbrechend. Vor allem Melanchthon hat dann viel für den Aufbau eines modernen Schulwesens getan. Nicht umsonst wird er praeceptor germaniae genannt, Deutschlands Schulmeister. Auch Magdeburg hat entscheidend von der reformatorischen Schulpolitik profitiert und im 16. Jahrhundert Schulen neu eingerichtet oder grundlegend umgestaltet.

Der zweite Bereich ist das Sozialwesen. Immer wieder stößt man in den Städten, in denen die Reformation eingeführt wurde, auch darauf, das ein „gemeiner Kasten“ eingerichtet wurde, also eine öffentliche Kasse, aus der eine städtische Armenfürsorge und Hospitalarbeit finanziert wurde. Häufig war es das Vermögen von Klöstern, die im Zuge der Reformation aufgelöst wurden, das den Grundstock des „gemeinen Kastens“ bildete. Vorbildlich war die Sozialreform, die auf dieser Grundlage z. B. von Philipp von Hessen durchgeführt wurde, einem der bedeutendsten evangelischen Landesherren des 16. Jahrhunderts. Hier liegen wesentliche Wurzeln des neuzeitlichen Sozialwesens.

Schließen möchte ich mit einem der zentralen biblischen Texte des Reformationstages. Es waren solche Texte, die in der Reformationszeit ganz unmittelbar ihre Wirkung entfaltet haben. Aber von ihnen her ist vieles in der kirchlichen und politischen Geschichte der Reformation auch kritisch zu sehen. Ich lese aus dem Matthäusevangelium einige Verse aus der Bergpredigt: „Glücklich sind die Friedfertigen, denn sie werden die Erde besitzen. Glücklich sind, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie sollen satt werden. Glücklich sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erfahren. Glücklich sind, die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.“

Politiker sagen manchmal: Mit der Bergpredigt Jesu kann man keine Politik machen. Reinhard Höppner hat dem entgegen gehalten, dass man ohne sie nicht wirklich Politik machen kann. Denn solche Sätze sind auch heute noch eine ständige Herausforderung für eine humane Politik und eine Politik, die sich auch ihrer Grenzen bewusst ist. Es ist nötig, an die Politik grundlegende Maßstäbe anzulegen und danach zu fragen, wie sie tatsächlich einem menschenwürdigen Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden dienen kann. Das Thema „Reformation und Politik“ lädt dazu ein, auch hierüber immer wieder nachzudenken und sich nicht entmutigen zu lassen.

Matthias Sens