Ulrichskirche
 

Peter Bürger: Die Echtheit der alten Steine

Deutschland streitet über den Wiederaufbau historischer Gebäude. Seit dem Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Dresdner Frauenkirche gibt es in Deutschland eine Debatte über die Legitimität von Rekonstruktionen. Die meisten Fachleute nehmen eine ablehnende Haltung ein, obwohl es auch Argumente für die Rekonstruktion gibt.

Die erfolgreiche Wiedererrichtung der Dresdner Frauenkirche hat in Deutschland das Bedürfnis nach der Rekonstruktion von im Zweiten Weltkrieg zerstörten, symbolisch bedeutenden Bauten sowie der Wiederherstellung alter Stadtteile erneut geweckt. Sie hat aber auch eine lebhafte Debatte um die architektonische Legitimität solcher Rekonstruktionen ins Leben gerufen. Dabei stehen sich Befürworter und Gegner unversöhnlich gegenüber. Auf der einen Seite findet man die Vertreter von Initiativen, die leidenschaftlich für die Rekonstruktion eines Bauwerks eintreten, auf der andern die Mehrheit der Architekten, Kunstwissenschafter und Denkmalpfleger.

Obsoleter Radikalismus

In den meisten Äusserungen der Rekonstruktionsgegner kehrt das Argument wieder, es handle sich bei den Rekonstruktionen letztlich um Täuschungen. Die neu errichteten Bauten gäben nur vor, historische Bauwerke zu sein. Dadurch werde aber beim Betrachter der Sinn für das echte historische Denkmal und dessen Geschichtlichkeit untergraben. Besonders fatal seien Rekonstruktionen, bei denen man sich aus Kostengründen oder aufgrund des Nutzungskonzepts auf die Fassade beschränke, einen blossen «Fassadismus» betreibe. Zumindest auf den ersten Blick wirkt das Argument überzeugend. Wo das Authentische der Täuschung entgegengesetzt wird, ist die Versuchung gross, sich auf die Seite des Echten zu schlagen. Aber was kann das im Bereich der Architektur bedeuten?

Dass man sich noch heute in der Rekonstruktionsdebatte auf Georg Dehios Satz «konservieren, nicht restaurieren» aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts beruft, zeigt einen eigentümlichen Mangel an geschichtlicher Reflexion an. Für Dehio war Echtheit an das Material gebunden, die alten Steine. Aber nach dem, was der Bombenkrieg der Jahre 1943–1945 angerichtet hat, die Vernichtung der baulichen Substanz fast aller deutschen Städte, kann man die Echtheit nicht mehr am Material festmachen, sondern muss die Kategorie neu bestimmen, und zwar von der Form her. Die Rekonstruktion der Dresdner Frauenkirche kann, obwohl sie nur wenige Spolien des alten Baus enthält, als authentisches Gebäude des Barock gelten, weil sie den alten Formgedanken hat wiedererstehen lassen.

Problematisch ist aber auch der Gegenbegriff der Fiktion; im architekturtheoretischen Diskurs lässt sich hinter ihm unschwer Adolf Loos' Kritik am Ornament ausmachen. Diese beruht auf der Vorstellung eines gradlinigen geschichtlichen Fortschritts, die wir nicht mehr teilen. Der Purismus von Loos gehört einer Moderne an, die sich die Reinheit des jeweiligen Mediums zum Ziel gesetzt hat, dabei beeindruckende Entdeckungen gemacht hat, aber letztlich in eine Sackgasse geraten ist. In der Architektur ist dies die Vernachlässigung der ästhetischen und lebenspraktischen Bedürfnisse der Menschen. Inzwischen hat die Postmoderne das Ornament rehabilitiert.

Hinter dem Argument, Rekonstruktionen stellten Geschichtsfiktionen dar, verbirgt sich also ein heute obsoleter Radikalismus der klassischen Moderne. Gegen ihn ist unter anderem daran zu erinnern, dass nicht nur Hegel, sondern auch sein Antipode Nietzsche im Schein ein wesentliches Moment der Wirklichkeit gesehen haben. Selbst Gropius hat bei seinem Dessauer Meisterhaus, das Modellcharakter hatte, den Einsatz von Fiktionen keineswegs verschmäht. Er hat zwei bautechnisch notwendige Stützpfeiler mit Spiegelglas umkleidet und sie dadurch unsichtbar gemacht.

Auch der Vorwurf, es gehe den Befürwortern von Rekonstruktionen nur um die Befriedigung nostalgischer Bedürfnisse, gehört in den Kontext eines ungebrochenen Modernismus. Vergangenen Epochen nachzuhängen, ist an und für sich noch keine tadelnswerte Einstellung; sie wird es erst, sobald der Kritiker die eigene Gegenwart hypostasiert. Hinzukommt, dass die Beschleunigung geschichtlicher Veränderungen, die wir im Zeichen der Globalisierung erleben, geradezu notwendig Rückwendungen hervortreibt. Die Welt können wir nicht verändern, aber vielleicht die Stadt, in der wir leben, mitgestalten.

Nun räumen jedoch inzwischen die meisten Kritiker der Rekonstruktion selbst ein, dass es eine verständliche Enttäuschung über die moderne Architektur gibt, über «ihre Traditionsfeindlichkeit, ihren Mangel an identitätsstiftender Kraft, ihre ästhetische Belanglosigkeit». Trotzdem folgt die Argumentation nach wie vor den Linien eines dogmatisch festgehaltenen Modernismus. Dieses Moment von Verstocktheit dürfte letztlich auf die im kollektiven Bewusstsein der Deutschen eingesenkte Unfähigkeit zurückgehen, die Vernichtung fast aller deutschen Städte im Zweiten Weltkrieg als kulturelle Katastrophe anzuerkennen. Die Rekonstruktionsdebatte rührt an eine Wunde, die seinerzeit verleugnet werden musste, um das Weiterleben möglich zu machen. Winfried G. Sebald hat in seinem Essay «Luftkrieg und Literatur» aus dieser Einsicht die These entwickelt, dass «die erstaunliche Fähigkeit der Selbstanästhesierung» einen «bis heute nicht zum Versiegen gekommenen Strom psychischer Energien» habe entstehen lassen, der «die Deutschen in den Jahren nach dem Krieg fester aneinander band und heute noch bindet als jede positive Zielsetzung». In der Tat haben Beobachter aus dem Ausland übereinstimmend berichtet, dass die Deutschen sich in den Trümmern bewegten, als seien diese immer schon ihre Umwelt gewesen.

Deblockierung der Debatte

Man fragt sich, ob das Verlangen nach Rekonstruktionen, das in letzter Zeit oft so vehement hervorbricht, nicht ein Anzeichen dafür ist, dass viele Menschen in Deutschland anfangen, sich die äusseren und inneren Verheerungen, die der Bombenkrieg mit sich gebracht hat, einzugestehen. Die Unversöhnlichkeit aber, mit der viele Architekturtheoretiker sich dagegen wehren, würde nicht nur einem festgehaltenen ästhetischen Modernismus geschuldet sein, sondern vor allem auch der Verdrängung dessen, was im Zweiten Weltkrieg – durch eigene Schuld – mit den Deutschen und ihrem Land geschehen ist.

Die Blockierung der Debatte liesse sich wohl nur überwinden, wenn die Fachleute sich für eine historische Reflexion öffneten und bereit wären, auch die Möglichkeit eigener Verhärtungen mitzubedenken. Sie müssten zum andern das Scheitern der durchschnittlichen modernen Architektur, die das Bild unserer Städte bestimmt, ernst nehmen, dessen Ursachen nachgehen und von daher Konzepte eines Urbanismus entwickeln, der traditionelle Bautypen einbezieht, ohne sie zum bloss spielerischen Beiwerk zu erniedrigen.

(Quelle: Neue Züricher Zeitung vom 7. Januar 2009)

 
 
 
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