Ulrichskirche
 

 
 

Impressionen von der Gedenkveranstaltung

Ansprache von Herrn Uwe Thal, 1. Stellvertretender Vorsitzender:

Liebe Mitglieder und Freunde der Ulrichskirche,
sehr geehrte Damen und Herren,
im Namen des Vorstands des Kuratoriums darf ich Sie überaus herzlich zu unserer heutigen Gedenkveranstaltung begrüßen.
Es sei mir gestattet, unserem Zusammensein einen ebenfalls nicht minder herzlichen Gruß unseres Vorsitzenden Dr. Tobias Köppe voranzustellen, der mich gebeten hat, Ihnen zu versichern, dass er heute im Geiste bei uns ist.
Es ist ein besonderer Tag: Vor 60 Jahren, am 5. April 1956 wurde der Stadt eine Kirche genommen, die über Jahrhunderte nicht nur das Stadtbild wesentlich prägte, sondern vor allem auch der Inbegriff und das Sinnbild dessen war, was wir heute als des „Herrgotts Kanzlei“ kennen: Magdeburg, die erste Großstadt der im 16. Jahrhundert bekannten Welt, die 1524 die reformatorischen Gedanken Luthers annahm und diese verteidigte. Dafür musste die Stadt dann 1631 auch bitter bezahlen.
Seit 1547 wirkten in der Stadt Freunde und Mitstreiter Luthers, die aus Wittenberg, nach der Besetzung durch kaiserliche, katholische Truppen fliehen mussten. Im Pfarrhaus der Ulrichskirche verfassten sie Hunderte Streitschriften gegen den Kaiser und für den Protestantismus. Nach dem Ende der Belagerung von 1550/51 – die Stadt hatte ihr Glaubensbekenntnis erfolgreich verteidigt – entstanden in der Ulrichskirche, veranlasst durch Flacius und Wiegand, die Magdeburger Centurien, ein noch heute vielbeachtetes und überaus detailliertes Werk zur Kirchengeschichte aus protestantischer Sicht.
Sie werden sich jetzt fragen: Warum dieser Exkurs gerade an dem heutigen Tag?
Magdeburg ist Ottostadt. Das ist wohl war. Das Jahr 955 gilt als Geburt der deutschen Nation, als es Otto I. und eben auch Ulrich von Augsburg, dem Namenspatron der Ulrichskirche gelang, die deutschen Stämme zu vereinigen und mit dem Sieg auf dem Lechfeld bei Augsburg – wenn auch mit hohem Blutzoll – etwas zu erreichen, was es vorher noch nicht gegeben hatte: eine erste gesamtdeutsche Leistung in der Geschichte.
Was aber kam danach? Natürlich ist die Historie unserer Stadt ungemein facettenreich und vielschichtig. Wird die Konzentration auf „unsere Otto‘s“ und all dessen, was sich damit verbindet aber genügen, auch Kulturhauptstadt Europas zu werden oder besser, tatsächlich zu sein? Wohl kaum.
2017 steht das Reformationsjubiläum vor der Tür. Magdeburg war das Medienzentrum der Reformation. Für den, Ende Mai 2017 in Magdeburg stattfindenden Kirchentag wird dies das Leitthema und der Ulrichplatz, nach den gegenwärtigen Planungen, ein zentraler Ort des Geschehens sein. Die fundamentale Bedeutung Magdeburgs für die Reformation ist zwar wissenschaftlich hinlänglich erforscht aber bei weitem noch nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert. Der Beförderung dieser mehr als notwendigen Aufklärung, wird sich das Kuratorium in Zukunft verstärkt widmen. Zugleich werden wir uns aktiv in die Vorbereitung und Durchführung des Kirchentags einbringen.
Aber nicht nur das: Ende 2015 gelang es dem Kuratorium zwei überaus wertvolle Bände der Magdeburger Centurien aus dem Jahr 1570 zu erwerben. In Zusammen-arbeit mit der Otto-von-Guericke-Gesellschaft werden sowohl diese Bücher als auch die 2013 restaurierte Turmuhr und das Modell der Ulrichskirche noch in diesem Jahr den Magdeburgern in ständigen Ausstellungen zugänglich gemacht werden. Geschichte als Erlebnis!
Otto ist also nicht alles. Magdeburg hat sehr viel mehr zu bieten. Wir alle müssen es eben nur sichtbar machen – konsequent und selbstbewusst.
„Ja! Wir werden Türme haben, zum Beispiel einen Turm fürs Rathaus, einen Turm fürs Kulturhaus. Andere Türme können wir in der sozialistischen Stadt nicht gebrauchen." verkündete Walter Ulbricht in seiner berühmt und berüchtigten „Turmrede“ am 07. Mai 1953 in Stalinstadt (heute Eisenhüttenstadt). Diese Turmrede bestimmte künftig die Planungen in der Hauptstadt und den Bezirksstädten der ehemaligen DDR. Zum Opfer fielen dieser Doktrin mehr als 50 Kirchen im Osten Deutschlands.
Wir gedenken heute also nicht nur der Sprengung eines Bauwerks. Als in den Morgenstunden des 5. April die Zündung der Sprengladungen erfolgte, wurde ein Stück gemeinsamer und uns prägender Identität ausgelöscht. Daran konnte in dem sich gerade etablierenden, sozialistischen Staatsgefüge eben kein Gedanke verschwendet werden. Der kulturelle und moralische Kollaps war schon zu diesem Zeitpunkt quasi vorprogrammiert.
Damit dürfen wir uns nicht einfach abfinden, auch wenn seither viele Jahre vergangen sind. Die Rückgewinnung des Verlorenen, auch wenn es nur kleine Bausteine sein mögen, stärkt das Gemeinwesen und ist zugleich Ansporn, generationsübergreifend ein ideelles Fundament zu schaffen, welches unsere Stadt auch weiterhin trägt. Sozusagen auf der Basis dessen, was auf dem Ulrichplatz unter der Erde ruht. Es gilt also das Bewusstsein zu schärfen. Wenn das gelingt und
tatsächlich auch so von uns allen vermittelt werden kann, wäre der Grundstein für etwas gelegt, was uns heute zuweilen abhandengekommen ist: Bürgersinn.
Sowohl Erinnerungen als auch die von der Ulrichskirche ausgehenden Visionen können uns neuen Mut geben. Dafür sind wir heute zusammengekommen.
Ich darf Sie bitten, in einer Minute des Gedenkens diese Kirche zu würdigen.