Ulrichskirche
 

 
 

Text der Ansprache zum Ulrichstag von Propst i.R. Dr. Matthias Sens


"Liebe Ulrichskirchengemeinde!

Für jede Woche gibt es einen besonderen Spruch aus der Bibel. Der Wochenspruch für diese Woche ist ein Satz aus dem Brief des Apostels Paulus an die Galater im 6. Kapitel: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“
„Einer trage des anderen Last“ – das ist so etwas wie ein Grundgesetz des christlichen Glaubens. Es steht auf einer Stufe mit der anderen Aufforderung, die wir von Jesus kennen: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Und es ist sogar noch ein bisschen konkreter. Denn das kann man sich ja gut vorstellen. Einer nimmt dem anderen etwas ab. Da wird das Leben leichter. Einer greift dem anderen unter die Arme. Da kommen beide gut voran. Wir fühlen mit, wenn andere Leid erfahren; da wird allen leichter ums Herz. Wir strecken die Hand aus zur Vergebung. Da wird etwas weggenommen, was alle Beteiligten belastet. Keiner wird allein gelassen mit dem, was sein Leben schwer macht. Da wächst echte Solidarität.

Einer trage des anderen Last – wie oft mag dieser Satz in der Ulrichskirche ausgesprochen worden sein, durch all die Jahrhunderte hindurch? Die Magdeburger, die in die Ulrichskirche gingen, haben ihn in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen zu hören bekommen, in guten Tagen und in schweren Zeiten. Kirchen sind dazu da, dass solche entlastenden und weiterhelfenden Lebensgrundsätze unters Volk gebracht werden. Das sind Worte, die gehören mitten ins Leben. Wo sie nicht mehr weitergegeben werden, fehlt Entscheidendes.

Die Zerstörung der Ulrichskirche war ein  Zeichen dafür, dass solche Worte der Bibel nicht mehr gehört wurden und auch nicht mehr gehört werden sollten. Was zum Leben eigentlich unbedingt dazu gehört, wurde an den Rand gedrängt und bekämpft. Wenn wir heute ganz bewusst wieder an die Ulrichskirche erinnern, dann wollen wir damit auch dazu beitragen, dass dies wieder neu ins Bewusstsein kommt: Einer trage des anderen Last – das ist ein heilsamer und guter Grundsatz, wenn Leben gelingen soll.

Über 30 Jahre nach der Sprengung der Ulrichskirche, Ende der achtziger Jahre,  gab es in der DDR einen Film, der trug genau diesen Titel: Einer trage des anderen Last. Er handelte von zwei jungen Männern kurz nach dem Krieg, die beide in ein Lungensanatorium eingewiesen wurden und sich dort ein Zimmer teilen mussten. Der eine war ein überzeugter Kommunist, der andere ein Vikar, also ein angehender Pfarrer. Der Film erzählt, wie die beiden nach anfänglicher heftiger Ablehnung beginnen, sich vorsichtig einander zu nähern. Sie fangen an, einander wenigstens zuzuhören. Dann versuchen sie, den anderen zu verstehen, seine jeweilige Geschichte zu begreifen und auch die belastenden Erfahrungen zu erkennen, die sie jeweils mitbringen, gegenseitige Vorurteile ab zu bauen. Schließlich gelingt es ihnen sogar, sich in den anderen hinein zu versetzen und ihn gelten zu lassen mit dem, was er will. Kurios ist eine Szene, in der der junge Funktionär dem Vikar hilft, eine Predigt in die Schreibmaschine zu schreiben und sich dabei auch am Formulieren beteiligt.

Der Vikar bekommt schließlich mit, dass sein atheistischer Zimmergenosse eine Heilungschance nur hat, wenn er ein bestimmtes Medikament bekommt, das aber für ihn nicht zur Verfügung steht. Für den Vikar freilich ist es durch ein christliches Hilfswerk geschickt worden. Nun verzichtet er zugunsten seines Zimmergenossen auf dieses Medikament, und der kann dann tatsächlich auch bald das Sanatorium geheilt verlassen, voller Sorge um seinen christlichen Mitpatienten, der noch längere Zeit zur Behandlung im Sanatorium bleiben muss.

Einer trage des anderen Last. Aus anfänglicher Konfrontation ist die Sorge füreinander geworden. Das war nur auf einem langen und geduldigen Weg aufeinander zu möglich. Sie haben dabei ihre Überzeugungen nicht aufgegeben. Aber sie haben sich achten gelernt. e sind offen füreinander geworden. Es ist Solidarität gewachsen über alle verbleibenden Unterschiede hinweg.

Ich erzähle das auch, um deutlich zu machen: Wir sind mit unser Initiative für die Ulrichskirche nicht auf Konfrontation aus. Wir wollen nicht spalten. Wir wollen versöhnen. Wir wollen eine Last aus unserer Geschichte aufnehmen und zu einem versöhnlichen neuen Anfang finden. Und vielleicht sollten wir deshalb noch mehr aufeinander zu gehen.

Das ist dann auch ganz im Sinne des heiligen Ulrich. Er ist ja nicht nur der mutige Führer an der Seite Ottos des Großen im Kampf gegen die Ungarn gewesen. Er ist vor allem ein Bischof gewesen, der die Belastung, ja die Not der Menschen in seinem Bistum sich zu eigen gemacht hat. Eigentlich hätte er oft beim König sein müssen. Aber er hat so oft es ging einen Stellvertreter an den königlichen Hof geschickt, weil er lieber bei den Menschen in seinem Bistum sein wollte. Er ist in die Dörfer und Städte gefahren, um selbst zu sehen, wie es den Menschen geht. Er hat sich berichten lassen, wo die Probleme liegen und hat mit ihnen beraten, was zu tun ist. Und natürlich auch die entsprechenden Anordnungen gegeben. Er hat selber dabei vieles auf sich genommen und oft wie ein Mönch gelebt, durchaus im Unterschied zu manchen Fürstbischöfen seiner Zeit.

Auch in der Reichspolitik ist er auf Versöhnung aus gewesen. Liudolf, der Sohn Ottos, hatte sich an einem Aufstand gegen seinen Vater beteiligt. In dieser Situation hat Bischof Ulrich nicht nur geholfen, den Aufstand gegen König Otto nieder zu schlagen, sondern hat sich gleichzeitig bemüht, Liudolf wieder mit König Otto, seinem Vater, zu versöhnen. Einer trage des anderen Last.

Ulrich von Augsburg war ein frommer Mann. Er konnte das alles tun, weil er immer wieder auf Jesus geschaut hat. Und da hat er gesehen, wie Jesus selbst danach gelebt hat: Einer trage des anderen Last. Jesus steht mit seinem ganzen Leben und mit seinem Sterben hinter dieser großen Lebensregel. Und wir profitieren davon. Denn Jesus hat uns  die schlimmste Last, die uns bedrückt abgenommen, die tiefe Schuld, die in jedem Leben steckt. Die Bibel sagt: Er hat uns mit Gott versöhnt. Dadurch haben wir viel Freiheit geschenkt bekommen. Wir können immer wieder die Lasten unseres Lebens bei ihm ablegen. Wir können immer wieder frei werden, mit Gott und mit den Menschen in Liebe und Frieden zu leben.

Männer und Frauen werden als Heilige verehrt, weil sie uns genau daran immer wieder erinnern, und wir uns an ihnen ein Beispiel nehmen können. Deshalb tragen Kirchengebäude den Namen solcher Heiligen. Ulrich ist ein guter Namenspatron gewesen."