Magdeburg und die heilsame Dimension von Kirchen für die Stadtgesellschaft
Fehlende Orte der Gottesnähe
von Susanne Seehaus
Aus: Deutsches Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt - Heft 2/2025
Mitte Januar 2025 auf dem Rückweg von einem Treffen des Pfarrverbandes in Kassel mache ich Station in Magdeburg. Mit der Stadt verbindet mich ein Thema, über das ich hier schreiben will. Während meiner Studienzeit 2021 habe ich mich intensiv mit dem Schicksal von symbolträchtigen Kirchen im städtischen Raum befasst, die im Zuge des Sozialistischen Städtebaus nach dem Zweiten Weltkrieg abgetragen oder gesprengt wurden. Magdeburg war DDR-Bezirkshauptstadt und hat im Zuge der Stadtumgestaltung in den 1950er Jahren mehrere Kirchen verloren. Deshalb ist die Stadt für mich ein Ort, wo das aktuelle Thema „Gesellschaftliche und Kirchliche Transformationsprozesse“ besonders spürbar ist.
Der überall sichtbare Rückzug der Kirche aus dem Raum der Öffentlichkeit hat in Magdeburg sichtbare Spuren hinterlassen. Seit dem 20.12.2024 steht Magdeburg aber gleichzeitig dafür, wie wichtig Kirche für eine Stadtgesellschaft sein kann: Innerhalb kürzester Zeit wurde am Samstag nach dem Terroranschlag ein Ökumenischer Gottesdienst im Dom organisiert. Es war ergreifend zu sehen, wie gut das alles durch kirchliches Handeln aufgefangen wurde.
Auch in Berlin gibt es diese Erfahrung: 2016 raste ein Attentäter mit einem LKW in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche und die Welt stand einen Moment still vor Entsetzen. Auch hier war die Kirche sofort da, half den Trauernden, organsierte Andachten und schaffte einen würdigen Gedenkort. In Augenblicken wie diesen in Magdeburg und Berlin steht die Zeit einen Augenblick still. Eine säkulare Gesellschaft spürt plötzlich, wie unendlich bedürftig sie nach etwas ist, das in dieser Situation trägt.
Eine Stadttopografie, die wenig Halt gibt
Das alles im Hinterkopf komme ich an einem kalten Januartag in Magdeburg an. Ich verlasse den Bahnhof und treffe auf eine große Ansammlung von Betonbauten. Die Stadt empfängt mich mit Beton, Glas und Stahl. Da ist wenig Anheimelndes und auch nichts Bergendes. Es gibt unglaublich viel Platz für Büros, Einkaufsmeilen und großzügige Straßenzüge. Eine Stadttopografie, die mir wenig Halt gibt. Ich spüre hier sofort, was dieser Stadt wichtig ist und was scheinbar nicht.
Magdeburg gehört zu dem Bundesland, das in Deutschland die niedrigsten Kirchenmitgliedszahlen hat. Wenn man irgendwo in Deutschland von einer säkularisierten Gesellschaft sprechen kann, dann hier. Ich spüre es in Magdeburg v.a. an der Architektur bzw. an der Topografie der Stadt: Kirche ist marginalisiert. Ohne die großen Gebäude wie den Dom, wäre es ganz weg, dieses Gefühl von Gottesnähe im städtischen Raum. Vielleicht ist deshalb der Umgang mit symbolträchtigen Kirchen so sensibel.
Ich denke an die gegenwärtigen Diskurse bei uns: Immer mehr Kirchgebäude sind zu teuer in der Unterhaltung, zu groß für die wenigen Gläubigen und werden scheinbar nicht mehr gebraucht. Oft stammen sie aus einer Zeit, in der die Gesellschaft christlich war und haben auch eine bedeutsame Geschichte für die Stadt wie die Ulrichskirche in Magdeburg. Doch was machen wir damit? Und was passiert dann mit der Gesellschaft? Am Beispiel von St. Ulrich und Levin in Magdeburg lassen sich viele Prozesse ablesen, die gerade passieren und unaufhaltsam zu sein scheinen.
St. Ulrich und Levin und das Reformationsjubiläum 2024
In Magdeburg wurde 2024 das Reformationsjubiläum gefeiert. 500 Jahre ist es her, dass die Reformation hier ihren Ausgang nahm. Verorten lässt sich dieses Jubiläum in der Kirche St. Ulrich und Levin, die seit dem 11. Jh. auf dem Ulrichplatz stand. Im Verlaufe der Geschichte wurde sie immer wieder zerstört und aufgebaut bzw. erweitert. In der Reformationszeit rückte die Kirche ins Zentrum der protestantischen Bewegung als des Herrgotts Kanzlei. Bedeutende Theologen wie Nikolaus von Amsdorf oder Matthias Flacius wirkten hier. St. Ulrich und Levin wurde ein geistliches und intellektuelles Zentrum, das in den berühmten Magdeburger Centurien Ausdruck fand.
Sprengung für den sozialistischen Städtebau
Die Kirche überstand Kriege und Verwüstungen wie den verheerenden Bombenangriff am 16. Januar 1945. Was ihr jedoch am Ende die Auslöschung bescherte, war das städtebauliche Konzept der SED. Nach den Sechzehn Grundsätzen des Städtebaus von 1950 gehörte eine Kirche nicht mehr auf den zentralen sozialistischen Platz, und so stand St. Ulrich und Levin im Weg und wurde am 5. April 1956 gesprengt. Es entstand ein sozialistischer Platz mit Magistrale und sog. „Arbeiterpalästen“ im „Zuckerbäckerstil“. Der Grundriss der Kirche wurde dann mit Rasen bedeckt, neben ihm ein Springbrunnen gebaut. Die Trümmer der zerstörten Kirche wurden z.T. in den Magdeburger Zoo gebracht und z.B. für den Bau eines Rhesusaffenhauses und eines Zoo-Kassenhäuschens verwendet. Derzeit lagern noch über 20 Tonnen Steine der gesprengten Kirche auf einem privaten Grundstück in Magdeburg.
Traumatisierung von Christen in der DDR
Die massive Traumatisierung, die diese Sprengung bei vielen Christen in Magdeburg hinterlassen hat, ist bis heute nicht wirklich aufgearbeitet. Die Botschaft war unmissverständlich: Wir brauchen Gott nicht mehr und im Zweifelsfalle sprengen wir einfach weg, was uns im Wege ist. Im Umgang mit St. Ulrich und Levin wurde die Haltung der DDR für alle sichtbar und nachhaltig etabliert. Christen wurden in der DDR gesellschaftlich an den Rand gedrängt. Glaube wurde schon in der Schule verächtlich gemacht, und wer sich offen zur Kirche hielt, musste Nachteile in Kauf nehmen. Daraus resultiert bei vielen Christen, die in der DDR sozialisiert wurden, eine große Zurückhaltung, den eigenen Glauben selbstbewusst zu leben. Zum Teil verstärkte die Erfahrung der Randexistenz in der DDR Selbstsäkularisierungstendenzen in der Kirche im Osten.
Ein Bürgerverein versucht den Wiederaufbau
Wie nachhaltig diese Umstände wirken, zeigte sich dann nach der politischen Wiedervereinigung nach 1990 gerade am Wiederaufbauversuch in Magdeburg. Motiviert durch den Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden gründete sich 2007 das Kuratorium Ulrichskirche e.V., das sich den Wiederaufbau der Ulrichskirche zum Ziel setzte. In Magdeburg ist jedoch anders als in Dresden die Umsetzung dieses Wiederaufbauprojekts schwer realisierbar. Das lag und liegt an den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen.
Im Juni 2010 begrüßte der Stadtrat zunächst mehrheitlich den Wiederaufbau und belohnte damit die ehrenamtliche Arbeit des Kuratoriums. Gegen diesen Stadtratsbeschluss, der das städtische Grundstück für den Wiederaufbau der Ulrichskirche bis Ende 2020 freihalten wollte, sammelte eine von der Fraktion Die Linke und dem damaligen OB Dr. Lutz Trümper (SPD) unterstütze Bürgerinitiative mit dem Namen Demokratie wagen – Bürger fragen 16.000 Unterschriften. Sie bezog in polemischer Weise gegen die Wiederaufbau Stellung. Zitat aus einem Wahlaufruf: „Sind Sie auch gegen die Errichtung einer de facto Disney-Land-Replik (Ulrichskirche) im Zentrum unserer Heimatstadt?“ Ein besonders aggressiver Bürgerbewegter, Torsten Maue, schreibt über seine Motivation an den Stadtrat Sören Herbst. „Kirchen gehören verboten. Die dienen doch nur dazu Kinder zu missbrauchen.“ (online, Quelle: Internetseite Kuratorium Ulrichskirche e.V.) Das Bürgerbegehren wurde im Januar 2011 vom Stadtrat zugelassen, obwohl die CDU-Ratsfraktion dagegen rechtliche Bedenken äußerte. Im März 2011 wurde der Bürgerentscheid mit einer Beteiligung von 55,7% der Magdeburger Wahlberechtigten und der Frage „Sind Sie gegen den Wiederaufbau der Ulrichskirche?“ durchgeführt. Davon sprachen sich 76% gegen den Wiederaufbau der Ulrichkirche aus und 24% dafür. 43% der Magdeburger*innen beteiligten sich nicht an der Umfrage.
Nach dieser schwierigen Situation konzentrierten sich die Bemühungen am Ulrichplatz im Jahre 2017 auf die Errichtung eines Portals aus den noch erhaltenen Steinen (abgelehnt vom Stadtrat mit 27 zu 23 Stimmen) und im Jahre 2021 auf eine Suchgrabung (10 mal 20 Meter) nach den Fundamenten. Diese wollte der Förderverein selbst finanzieren. Eine Abstimmung darüber im Stadtrat am 11.10.2021 erbrachte eine Ablehnung mit nur einer Stimme: SPD, Grüne und CDU stimmten für die Suchgrabung, Linke, AfD, FDP, Gartenpartei und der OB dagegen.
Was macht eigentlich die Kirche?
Dem Theologen Wolfgang Grünberg folgend, könnte die Kirche als verantwortlicher Träger öffentlicher Belange im Gemeinwesen die Politik daran erinnern, dass es im kommunalen Selbstinteresse liegt, den Ulrichplatz nicht ohne einen Segensspender zu lassen. Zumal dann, wenn es bürgerschaftliches Engagement gibt, das sich um das Erinnern an eine bedeutsame Kirche kümmert.
Die Kirche könnte sich als wichtige Erbin auf dem Ulrichplatz fragen, welche missionarischen Impulse hier vielleicht hilfreich sein könnten, um die Stadtidentität zu stärken und dabei das kulturelle Erbe zu nutzen. Aber …
Die Sprengung von St. Ulrich und Levin 1956 geschah gegen den massiven Protest der Kirche. Es wurde 1968 eine Entschädigungssumme in Höhe von 512.100 DDR-Mark festgesetzt, mit Zinsen kam man am Ende auf 766.443 DDR-Mark. Viel weniger, als die Evang. Kirche, die zu keinem Zeitpunkt der Sprengung zugestimmt hatte, im Nachhinein errechnet hat. Mit dem Geld wurde die Magdeburger Wallonerkirche (1965-1974) wiederaufgebaut, was aber hierfür bei weitem nicht ausreichte. Nach der Wende versuchte die Magdeburger Altstadtgemeinde zweimal eine Rückübertragung des Grundstückes, was jedoch scheiterte. Somit gehört der Grund und Boden nunmehr der Stadt Magdeburg.
Vielleicht auch deshalb gibt es innerhalb der Evang. Kirche wenig Interesse an einer Kirche, deren Fundamente unter einer grünen Wiese begraben liegen. Schließlich hat Magdeburg mit dem Dom, der Johanniskirche und vielen weiteren Kirchen wahrlich genug Raum für das geistliche Leben.
Es ist für mich vollkommen nachvollziehbar, wie Kirche sich hier v.a. zurückzieht und bedeckt hält im Hinblick auf eine öffentlich vernehmbare Fürsprache für eine mögliche Rekonstruktion der Ulrichskirche. Gleichzeitig zeigt sich für mich aber auch, wie weit die Selbstbeschränkung und der Rückzug von Kirche aus dem Öffentlichen bereits fortgeschritten ist.
Religion braucht sichtbare Orte
Dass Kirche in Magdeburg den öffentlichen Raum auf dem Ulrichplatz aufgibt, sich aus der Debatte darum heraushält und den kommunalen Interessen das Feld überlässt ist unter den gegebenen Umständen verständlich. Hier vollzieht sich etwas, das vermutlich inzwischen an vielen Orten in Deutschland, v.a. in Ostdeutschland, passiert: die bewusste Zurücknahme des Anspruchs von Kirche, innerhalb einer Stadtgesellschaft Mitspracherechte im Sinne der Gemeinwohlorientierung zu haben. Der Verzicht auf Gebäude unter dem Druck von Finanzen und der schwindenden Zahl der Gläubigen ist eine nachvollziehbare Entwicklung. Überall machen Kirchengemeinden inzwischen Gebäudebedarfsplanungen, suchen nach Konzepten für die Nutzung ihrer Kirchen und kapitulieren vor der Verantwortung für viel zu viele Immobilien. Mit den Gebäuden gibt Kirche auch immer mehr den Anspruch auf, innerhalb eines Gemeinwesens eine tragende Rolle im Hinblick auf die Gemeinwohlorientierung zu haben. Doch Demokratie braucht Religion, sagt Hartmut Rosa. Und ich füge hinzu: Und Religion braucht Orte, wo sie sichtbar ist und bleibt.
Ich frage mich kritisch: Müssten wir in der Kirche nicht viel lauter für unseren Platz in der Gesellschaft eintreten? Es ist eben nicht egal, ob eine Stadt kirchliche Orte verliert und für grüne Wiesen oder Einkaufszentren zur Verfügung stellt. Die Welt kommt ohne Gott aus – ja, aber besser wird sie dadurch auch nicht. Und wenn so etwas passiert wie am 4. Advent 2024 in Magdeburg, spürt ein ganzes Gemeinwesen, wie sehr Menschen Orte suchen, an denen sie heilsame Quellen finden, aus denen sie schöpfen können.
Mein Besuch in Magdeburg führt mich am Ende zum Portal der Johanniskirche. Unglaublich viele Kerzen stehen da und Kuscheltiere und Blumen. Sie finden ihren Ort hier, wo Gottes Gegenwart in der Stadt unmissverständlich sichtbar ist. Ich fühle mich als Berlinerin verbunden im Schmerz um die Opfer in Magdeburg. Ich denke daran, dass Gott am Ende die Gewalttätigen vom Thron stürzen wird, wie Maria es im „Magnificat“ singt. Für die Sichtbarkeit, Hörbarkeit und Erfahrung dieser uralten Einsicht der Gottesmutter ist jede Kirche, die nicht verschwinden muss, ein Geschenk für die Welt.
▬ Susanne Seehaus
Über die Autorin / den Autor: Pfarrerin Susanne Seehaus, Pfarrerin der Evang. Emmaus-Gemeinde Berlin-Zehlendorf, Vorsitzende der Pfarrvertretung in der EKBO, Vorstandsmitglied im Verband evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland.